Gesundheit Pflege

Herausforderungen im Gesundheitswesen

Herausforderungen im Gesundheitswesen
Aeskulapstab | gemeinfrei

Am 13. Mai 2012 wählen die Nordrhein-Westfalen ihren neuen Landtag. Mitglied des zukünftigen Kabinetts wird auch wieder eine Ministerin oder ein Minister für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter sein. Im Internetauftritt des entsprechenden Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter (MGEPA) wird sehr schnell deutlich, worum es bei dem Thema Gesundheit eigentlich gehen sollte:

“Das Gesundheitssystem menschlicher und sozialer machen. Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik des MGEPA steht der Mensch. Hier geht es nicht einseitig um Fälle, ‘Strukturen’ oder ‘Systeme’, sondern darum, was jeder Mensch benötigt, um seine Gesundheit zu erhalten oder durch gute medizinische Versorgung zurück zu gewinnen.”

Der Mensch und seine Gesundheit stehen im Mittelpunkt der Arbeit des MGEPA. Eine durchaus lobenswerte Leitlinie. Nur ein paar Links weiter ist sogar die Rede davon, dass Deutschland eines der besten Gesundheitswesen der Welt habe. Jammern wir also nur auf hohem Niveau? Oder ist es doch angebracht, die von Patienten wahrgenommene Wirklichkeit einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und Lösungswege für eine Optimierung unseres scheinbar unantastbaren Gesundheitsversorgungsverwaltungssystems zu erörtern?

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen manchmal Welten:

Dem aufmerksamen gesetzlich Versicherten wird nicht entgangen sein, dass er in vielen Arztpraxen als Patient zweiter Klasse behandelt wird. Gesetzlich Versicherte bekommen häufig keine zeitnahen Termine, auch wenn medizinisch notwendige Behandlungen kurzfristig durchzuführen sind. Im Gegenteil: häufig müssen sie Wochen oder sogar Monate auf einen Termin warten. Privatpatienten haben in der Regel mit Wartezeiten wenig zu tun und werden zeitnah vom Arzt behandelt.

Darüber hinaus wandern Ärzte aus ländlichen Gegenden ab und verlassen Deutschland nach ihrer Ausbildung in Länder, die für sie lukrativ sind. Auch in Ballungsräumen gibt es bereits jetzt vielerorts zu wenig Ärzte. Daraus resultieren die langen Wartezeiten für Kassenpatienten. Ältere Menschen können aufgrund fehlender Mobilität oft gar keinen Facharzt aufsuchen und erhalten demnach keine – nach dem Sozialgesetzbuch zugesicherte – ärztliche Versorgung. Es ist also unabdingbar, finanzielle Anreize für Ärzte zu schaffen, damit diese sich nach dem Studium in Deutschland niederlassen. Darüber hinaus sind Einwanderungshürden abzuschaffen, damit qualifizierte Menschen (nicht nur Ärzte) bedingungslos zuwandern können. Kredite sind entsprechend ohne große bürokratische Hürden zu vergeben. Technische Ausrüstung könnte z. B. von der Kommune erworben, und dem Arzt gegen Gebühr verliehen werden. Im Endeffekt müssen sich so viele Ärzte niederlassen, dass ein Wettbewerb um Patienten entsteht.

Dazu kommt, das die langfristige Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems nicht gesichert ist. 2011 wurde von den Krankenkassen zwar ein Milliardenüberschuss erwirtschaftet, welcher allerdings spätestens 2013 wieder aufgebraucht sein wird. Korruption im Gesundheitswesen und Geldverschwendung führen zu Milliardenschäden. Ärzte und Krankenhäuser halten sich – durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen gezwungen – häufig über die Ausstellung von Privatrezepten oder mit absichtlich zu hoch ausgestellten Rechnungen finanziell über Wasser. Die Krankenkassen wiederum setzen spezielle Krankenhausabrechnungssoftware ein, um die viel zu hohen Rechnungen fachgerecht kürzen zu können.

Schon heute kann eine menschenwürdige und qualitativ hochwertige Pflege älterer Menschen nicht mehr gewährleistet werden. Zum einen fehlen Pflegekräfte und zum anderen ist die Pflege für Otto Normalverbraucher schlicht nicht bezahlbar.

Über 4.000 Gesetze und Verordnungen in Deutschland verkomplizieren darüber hinaus das System in erheblicher und unnötiger Art und Weise. So gibt es allein zwölf Sozialgesetzbücher. Ein Wettbewerb zwischen Krankenkassen wird durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung, kurz GKV-WSG) und sonstige Verordnungen mehr verhindert als gefördert. Zudem arbeiten viele Aufsichtsbehörden nicht effizient.

Der einst von der FDP zum Gesundheitsexperten erhobene Rösler ist mittlerweile Wirtschaftsminister. Daniel Bahr, eigentlich Wirtschaftsexperte, ist nun Bundesgesundheitsminister. Reformen verkommen nicht zuletzt aufgrund fehlender Kontinuität regelmäßig zu Reförmchen. Der Patient, also eine stets menschenwürdige Behandlung, steht längst nicht mehr im Fokus.

Der Arbeitskreis Gesundheit der Piratenpartei hat einige der schwerwiegendsten Mängel im Gesundheitswesen identifiziert. In ihrem Antrag WP095 nennen sie:

  • Fehlallokation von Versorgungsleistungen durch falsche oder korruptive Anreize
  • Kommerzielle Vorherrschaft der Anbieterinteressen vor den gesundheitsrelevanten Patienten- und Versicherten-Interessen
  • mehrfacher Aufwand des Pharma-Marketings (auch mit zweifelhaften Methoden) vor dem Forschungsaufwand für Pharmazeutika
  • Korruption bei der Auftragsvergabe, auch unter Ärzten verschiedener Fachrichtungen
  • Abrechnungsbetrug (durch Ärzte, Apotheker, Versicherte und Pharmaindustrie)
  • Manipulation medizinischer Sachverständiger, auch durch Korruption.”

Insofern müsste eine echte Gesundheitsreform die Sicherstellung von unmittelbarer ärztlicher Behandlung anstreben. Ergo: für eine flächendeckende und ausreichende Versorgung aller Regionen mit Haus- und Fachärzten sowie die Schaffung von entsprechenden – insbesondere finanziellen – Anreizen für die Niederlassung von Haus- und Fachärzten sorgen. Weiterhin müssen Verwaltungskosten drastisch eingespart und Verträge für Heil- und Hilfsmittel optimiert werden. Der ehemalige Kurzzeit-Bundesgesundheitsminister Rösler hat zwar die Ausgaben für Medikamente durch Verhandlungen mit den Pharmaunternehmen nach unten geschraubt und so kurzzeitig für Entlastung bei den Krankenkassen gesorgt. Letztendlich wäre aber eine Entschlackung der Gesetze und Verordnungen sowie die Wiederherstellung eines echten Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen notwendig.

Die eigentliche Leistung innerhalb des Gesundheitssystems wie auch in der Pflege wird in den Arztpraxen, Krankenhäusern, Pflegeheimen, in der Pharmaindustrie und -forschung sowie bei den entsprechenden Zulieferern erbracht. Aufsichtsbehörden und Krankenkassen kontrollieren, genehmigen und verwalten diese Leistung lediglich.

Der bereits eingeschlagene Weg, Aufsichtsbehörden und Krankenkassen in ihrer Anzahl zu reduzieren, sollte deshalb konsequent weiter verfolgt werden. Für die soziale Abfederung der betroffenen Beamten und Angestellten konsultiert der geneigte Leser das Konzept Sozialstaat 3.0 der Sozialpiraten. Die enorme Anzahl an Gesetzen und Verordnungen sollte überprüft und auf das notwendige Minimum reduziert werden. Mit diesen Maßnahmen könnten mittel- bis langfristig bundesweit jährliche Einsparungen im hohen zweistelligen Milliarden-Euro-Bereich erzielt werden. Ein nicht zu verachtender positiver Nebeneffekt von weniger behördlicher Kontrolle und deutlich weniger gesetzlich vorgeschriebener Geschäftsprozesse wäre, dass das Personal aller betroffener Stellen sich wieder auf das Wesentliche, nämlich den Patienten und seine Versorgung konzentrieren könnten.

Kassenvorstände fordern seit langem die Wiedereinführung der Beitragsautonomie für Krankenkassen. Auch der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Karl Lauterbach, forderte den, von Ex-Gesundheitsministerien Ulla Schmidt eingeführten Einheitsbeitragssatz wieder abzuschaffen. Die Gestellung von kostenlosen Gesundheitstaxen für nicht mobile Patienten (als Teil des gesetzlichen Leistungskataloges) wäre zu diskutieren, damit jeder Bürger bei Bedarf einen Arzt konsultieren kann.

Der gesetzliche Leistungskatalog sollte alle medizinisch notwendigen Leistungen enthalten und dementsprechend überarbeitet werden. Nur das, was eindeutig medizinisch unnötig ist oder der Nutzen die Kosten nicht rechtfertigt, muss wenn gewünscht zusätzlich privat versichert werden. Gesetzliche Krankenkassen sollten die freie Wahl haben, welche Zusatzleistungen sie anbieten möchten. Auch private Krankenversicherungen müssen jedoch wettbewerbsfähig bleiben.

Vielleicht fokussiert sich deutsche Gesundheitspolitk zukünftig auf das Wesentliche, nämlich die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, das der Patient zeitnah zum Arzt gehen und der Arzt dem Patienten ohne Budgetbremse helfen kann.

Die Piratenpartei ist auf dem besten Weg, die Weichen für diese Zielsetzung zu stellen. Dafür ist noch notwendig, dass die beiden Meinungsgruppen des AK Gesundheit – auf der einen Seite die “Reformer”,  die eine Beibehaltung der privaten Krankenversicherung für essentiell betrachten, auf der anderen Seite die “Solidarier”, welche sich für ein vollständig solidarisches Gesundheitssystem (vergleichbar mit dem Konzept der Bürgerversicherung) einsetzen –  eine gemeinsame programmatische Position erarbeiten. Die momentan regen Diskussionen zeigen den hohen Anspruch, gemeinsam einen beschlussreifen Leitfaden zur Gesundheitspolitik vorzubereiten, der finanzierbar ist und sich an den Bedürfnissen aller Bürger orientiert.